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Paragraf 175 – Rückblick auf die "Schmach des Jahrhunderts"
Personen, die wir heute als queer oder gay bzw. männlich homosexuell bezeichnen, hießen noch vor 30 Jahren vielfach Homos, warme Brüder oder 175er. Diverse Menschen benutzen nach wie vor lieber das Wort homosexuell als schwul. Die immer noch verbreitete Aversion gegen Männer, die auf Männer stehen, lässt sich eindeutig auf den Paragraf 175 zurückführen.
Immerhin stellte das deutsche Strafgesetzbuch "sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts" über 120 Jahre lang unter Strafe. Und zwar exakt vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994. Bis zum Jahr 1935 fiel zudem die "widernatürliche Unzucht mit Tieren" unter den Paragraf 175 StGB, den "Schwulenparagraf". Alles in allem sollen ca. 140.000 Männer nach unterschiedlichen Fassungen des Strafgesetzes verurteilt worden sein.
Staatlich verordnete Schwulenfeindlichkeit?
Wer Schwule ablehnt, gilt heutzutage schnell als homophob. Tatsächlich kann Angst eine Rolle dabei spielen, wenn sich Jugendliche und Erwachsene aggressiv, diskriminierend oder sogar gewalttätig Homosexuellen gegenüber verhalten. Oder aber sich abfällig und ausgrenzend über diese äußern. Bei Homophobie handelt es sich häufig um eine tief im Unterbewusstsein verankerte Angst. Als Angststörung im psychologischen Sinn ist diese allerdings nicht einzuordnen.
Der deutsche Schriftsteller Kurt Hiller war Schriftsteller sowie Pazifist und engagierte sich in der allerersten Schwulenbewegung. 1922 publizierte er eine Aufsatzsammlung unter dem Titel "§175: Die Schmach des Jahrhunderts". Bei den Nazis wurde der Paragraf 175 noch verschärft, indem die Gefängnishöchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre anstieg. Ferner erfolgte eine Erweiterung des Tatbestandes von "unzüchtigen Handlungen" aller Art. Hinzu kam ein neuer §175a des Strafgesetzbuchs, der für angeblich "erschwerte Fälle" Haftstrafen im Zuchthaus bis zu zehn Jahren vorsah.
In der DDR galt ab 1950 die alte Fassung von Paragraf 175, und auch §175a kam weiterhin zur Anwendung. Doch schon zehn Jahre verhielt sich die Obrigkeit nachsichtig bei schwulen Aktivitäten unter Erwachsenen. 1968 trat ein erneuertes Strafgesetzbuch in Kraft: §151 drohte Frauen wie Männern Strafe bei "gleichgeschlechtlichen Handlungen mit Jugendlichen" an. 1989 wurde dieser Paragraf getilgt.
Der §175 in der jüngeren Geschichte
In der Bundesrepublik blieben die Paragrafen 175 und 175a aus der Nazizeit zwei lange Jahrzehnte lang bestehen. Dieser Tatbestand untermauerte die verklemmte und schwulenfeindliche Grundstimmung in den 1950er- und 1960er-Jahren. Viele Menschen hielten Homosexualität für eine Krankheit und für eine Sünde. Es gab sogar Elektroschock-Therapien, die Männer "gesund" machen sollten.
Schwule lebten in einem spürbar homophoben Klima, mussten ihre sexuelle Orientierung verstecken und lügen. Manche gingen Scheinehen ein oder rutschten ins halbkriminelle Milieu ab. Wer als homosexuell "enttarnt" wurde, galt als erpressbar. Es gab nur wenige offen schwul lebende Männer, beispielsweise in Künstlerkreisen oder in der Werbebranche. Oft wurden sie scheel angesehen oder belächelt. Teenager trauten sich nicht zum Coming-out, um in der Familie nicht in Ungnade zu fallen.
Das Jahr 1969 bracht eine erste, das Jahr 1973 eine weitere Reform. Nun wurden nur noch Strafen für Sex mit Jungen unter 18 Jahren in Aussicht gestellt. Bei heterosexuellen und lesbischen Handlungen lag das Schutzalter hingegen bei 14 Jahren. Im Zug der deutschen Einheit verlor der Paragraf 175 Strafgesetzbuchs ab 1994 auch in den alten Bundesländern seine Gültigkeit.
Längst überholtes Antischwulengesetz
Die Bezeichnung "175er" ist im Volksmund noch nicht vergessen. Der 17.5. wird auch weiterhin "Feiertag der Schwulen" genannt. Dabei gilt dieser heute als "Internationaler Tag gegen Homophobie, Biphobie, Interphobie und Transphobie" und deckt damit mehrere Spektren der queeren Szene ab. Am 17. Mai 1990 strich die WHO Homosexualität aus dem Krankheitskatalog.
Dessen ungeachtet: Es gibt auch im 21. Jahrhundert weltweit viele Regierungen und Bevölkerungsgruppen, die zu ihrer Schwulenfeindlichkeit stehen. Vielfach wird diese sogar religiös begründet. Man denke nur an die Missbrauchsvorwürfe gegen kirchliche Würdenträger und den bigotten Umgang damit.
Ob jung oder alt: Vorurteile und Ressentiments gegen homosexuelle Männer sind weit verbreitet. Obwohl Frauen oft eine tolerantere Einstellung haben, befinden sich auch unter ihnen ausgesprochene Schwulenfeindinnen. Die Furcht, der eigene Sohn oder Partner könnte sich als gay outen, ist noch nicht aus unserem Alltag verschwunden. Es soll sogar Menschen geben, für die der Paragraf 175 trotz seiner Abschaffung weiterhin gilt und die die sogenannte Homo-Ehe ignorieren.
Der Kampf gegen Homophobie geht weiter
Kürzlich zeigte sich im Rahmen der internationalen "Pride" einmal mehr in eindrucksvoller Weise, wie selbstbewusst sich die Homosexuellenszene inzwischen präsentiert. Dennoch bleiben Paraden und Demos zum "Christopher Street Day" Ausnahmen. In den Köpfen diverser Zeitgenossen existiert der Paragraf 175 leider wie eh und je. Aus Botschaften in den Social Media geht hervor, dass sich manche sogar eine Wiederbelebung des §175 wünschen würden. Aber zum Glück spiegeln diese nicht die Haltung der Mehrheit gegenüber Schwulen wider.